Eine neue Ära
Liebes Volk,
Es ist passiert. Endlich! Dieses Magazin hier hat endlich die Wertschätzung erhalten, die es verdient. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat „Wellenbrecher“ als Wort des Jahres 2021 gekürt. Herzlichen Glückwunsch, dieser Preis geht an uns alle und vor allem an Sie, liebes Volk. Denn was wäre dieses Heft ohne seine treuen Leser*innen? Nichts!
Fünfmal im Jahr stehen sie vor dem Rathaus Goldach Schlange, um sich die neuste Ausgabe zu holen. Ob in tropischer Hitze oder in eisiger Kälte (was sich ja dank der Klimaerwärmung von Mal zu Mal ändert), Sie verlassen das traute Heim, machen sich auf den heiligen Pilgerweg zur Dorfmitte, kaufen sich den Wellenbrecher und wälzen sich in der Druckerschwärze wie eine Hundewelpe im Schnee. Falls Sie jetzt denken: „Aber Moment, der Wellenbrecher wird mir doch direkt nach Hause geliefert?“, dann sage ich eins zu Ihnen: Faul. Einfach nur faul. Ganz ehrlich. Ist Ihnen Goldach zu gross geworden? 15 Häuser, eine Landi und 150 Einwohner*innen und Sie brauchen für Ihren heissgeliebten Wellenbrecher einen persönlichen Pöstler? Schämen Sie sich. Und erzählen Sie mir nicht, das Dorf sei dermassen gewachsen. Als ich das letzte Mal in Goldach war, gab es noch gar keine Post! Man hat einander keine Briefe geschrieben, sondern die Nachrichten ganz bequem durchs Fenster zum anderen Dorf-Ende rübergeschrien. Die Gemeinde war ein einziger Whatsapp-Chat und niemand konnte die Gruppe verlassen! Und Pakete verschicken? Pah! Goldach war so klein, viele von uns lebten in Paketen! Und das war noch die Privilegierten, die Selbständigen! Die meisten haben direkt im Rathaus gewohnt, in einer grossen Kommune! Freie Liebe, aber mit Putzplan, alles was recht ist. Und die Steuererklärung haben wir mündlich gemacht (nicht so, wie Sie jetzt denken, Sie Hippiegrüsel). Ja, das waren noch Zeiten. Und Sie sitzen jetzt dekadent zu Hause und lassen sich den Wellenbrecher in den Briefkasten legen, als wären Sie Jeff Bezos höchstpersönlich? Sie machen mich krank!
Und zwar für einmal nicht mit Covid und das will was heissen, schliesslich hat sich der Kanton St. Gallen bezüglich Covid-Massnahmen und Impfquote ja nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Aber: Ich wohne in Bern und halte damit den national vorgegebenen Covid-Sicherheitsabstand von mindestens 150 Kilometer zur Ostschweiz. Für mich gilt den Kanton St. Gallen betreffend die 1-G-Regel: Geflohen.
Ich mach nur Spass: Natürlich ist Goldach nicht so klein, im Gegenteil. Goldach ist die Metropole im multinationalen Bodenseekessel, Sie prosperieren als Volk und als Gemeinde (zumindest im Vergleich zu Rorschach) und der Wellenbrecher ist nicht nur die Speerspitze des helvetischen Journalismus, sondern dazu auch noch gratis! Wobei, ganz gratis natürlich nicht. Sie haben ein Abo von Geburt auf, Sie werden sozusagen als Säugling im Wellenbrecher getauft oder bei Einreise zwangsjournalisiert. Auf alle Fälle landen Ihre Steuern schlussendlich direkt bei mir. Kirchensteuer oder Kaisersteuer, ist doch alles dasselbe, nur mit dem Unterschied, dass ich an Weihnachten tatsächlich auftauche. Und seien Sie froh: Je nachdem, wie die Abstimmung über das Mediengesetz ausgegangen sein wird, ist das hier vielleicht bald die einzige Zeitschrift, die nicht Christoph Blocher gehört. Aber ich schweife ab.
Wie gesagt: „Wellenbrecher“ ist das deutsche Wort des Jahres 2021 und das völlig zu Recht. Es wird sich von nun an einiges ändern. „Was heisst das jetzt?“, fragen Sie sich vielleicht. „Und warum überhaupt das DEUTSCHE und nicht das Schweizer Wort des Jahres?“ Die Antwort ist einfach und ich bin froh, dass ich Ihnen hiermit verkünden darf: Sie sind von nun an Deutsche, herzlichen Glückwunsch. Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das, was schon lange nötig war, endlich möglich zu machen, nämlich: Goldach gehört neuerdings zum Grossen Kanton. Aber nur Goldach. Als exklusive Enklave, sozusagen. Oder inklusive Exklave, keine Ahnung, einfach so wie Horn TG, einfach mit Relevanz und ohne Thurgau. Warum ich das veranlasst habe? Nun, ich bin der Kaiser und nach dem Abgang der Kanzlerin ist ein Machtvakuum entstanden, das es zu füllen gilt. Klar, um Deutschland endgültig zu übernehmen, muss ich noch Olaf Scholz in einem stammesrituellen Schlamm-Catch-Fight besiegen, so funktioniert das dort im nördlichen Schwellenland. Das wussten Sie vielleicht bis jetzt noch nicht, erklärt aber, wie die AfD in den Bundestag gekommen ist. Denn wenn jemand in Schlammschlachten aufblüht, dann doch jene, die sich in brauner Sosse eh wohlfühlen. Wie dem auch sei: Ein weichgespülter Sozialdemokrat mit weiss gewaschener Weste sollte auf alle Fälle kaum ein Problem darstellen. Jemanden, der mit Nachnamen fast so heisst, wie der Ausruf, den wir besoffen in den Nachthimmel bellen, wenn jemand gerülpst hat, kann ich eh nicht ernstnehmen. Ausserdem wird Deutschland kaum eine Schweizer Gemeinde verschmähen, die das Gold bereits im Namen trägt. Das heisst: Mit der Schweiz haben wir bald nichts mehr zu tun (und damit auch mit Rorschach, zum Glück). Und auch bezüglich Covid gibt es keine Schwierigkeiten, denn: Die deutschen Ärzt*innen sind ja eh schon da.
In diesem Sinne sage ich: Herzlichen Glückwunsch! Gern geschehen. Und das ist erst der Anfang. Österreich ist als Nächstes dran. Unser Ziel ist Deutschland, Österreich, Schweiz. Oder internationaler ausgedrückt: Unser Goal? D-A-CH.
Es grüsst Sie
Ihr Kaiser
PS: Falls Sie tatsächlich immer bei Erscheinungstermin des Wellenbrechers vor dem Rathaus stehen und dem Gemeinderatsschreiber Richard Falk einen Fünfliber in die Hand drücken, bitte machen Sie das weiterhin. Er hat meine Anstellung und damit auch meine Gage zu verantworten – und es darum wirklich nötig. Soweit ich weiss, wohnt er immer noch, auch der alten Zeiten willen, in einem Paket.