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Neues vom Kaiser

Alles Gratis (zum Mitnehmen)

Liebes Volk,

Ich weiss gar nicht, wie das genau in Goldach gehandhabt wird, aber hier in Bern (und in anderen Städten ebenfalls) gibt es dieses Phänomen namens „Gratis zum Mitnehmen“, vielleicht kennen Sie das. Man stellt Dinge auf die Strasse, die man nicht mehr braucht, stellt ein Schild mit der besagten Beschriftung dazu und alle dürfen sich bedienen. Eigentlich eine runde Sache. Alte Tassen, gelesene Bücher, allerhand Kerzenständer, Olivenschiffchen und ähnliches wechseln den Besitzer. Ein Tauschgeschäft, wie es sich die Schweizerin vorstellt. Unkompliziert, gratis und vor allem: Man muss mit niemandem reden. Kein Menschenkontakt erforderlich. Herrlich! Das genaue Gegenteil eines türkischen Basars. Weniger Worte, mehr Taten! Hier wird nicht gehandelt, hier wird gehandelt! Vorbeigehen, sehen, mitnehmen, haben – eine wahre Freude. Es ist wie stehlen, aber einfach ohne schlechtes Gewissen. Was will man mehr? Wobei: Manchmal tu ich beim „Gratis-zum-Mitnehmen“ für mich so, als wär’s gar nicht gratis – um mich lebendig zu fühlen. Der Adrenalinkick des kleinen Mannes, bzw. Kaisers.

Aber auch abgesehen davon: Schlechtes Gewissen kann schon vorkommen, einfach umgekehrt. Eben gerade weil man etwas nicht mitnimmt. Also ich zumindest fühle mich manchmal schon ein bisschen schlecht, wenn ich einfach so vorbeilaufe. Stellen Sie sich vor, da steht so ein geblümtes Service, so ein überaus niedliches Geschirr aus Tassen und Untertellern, liebevoll drapiert, einladend präsentiert, bestimmt mit einer Geschichte – das kann ich doch nicht einfach so links liegenlassen! Vor allem dann nicht, wenn hinterm Fenster eine alte Frau die Nase an die Scheibe drückt, mit wässrigen Augen tief in meine Seele schaut und mit ihrem zitternden Mund lautlos die Worte formt: „Aber… aber… aber… es ist doch gratis…?“

Ja dann muss man eben fast, gell, wenn’s schon nichts kostet. Also nimmt man das Zeug halt mit, stellt es in den Keller und wartet eine bestimmte Zeitspanne (die von der Genfer Menschenrechtskonvention als human genug eingestuft wird), um es dann selbst wiederum auf die Strasse zu stellen – es ist ein ewiger Kreislauf.

Und das ist es wirklich! Nicht einmal absichtlich. Da hast du noch vor wenigen Wochen einen deiner unzähligen Pfefferstreuer rausgestellt (bravo, gut gemacht, endlich wieder ein bisschen Platz im Schrank) und dann läufst Du selbst an so einem Gratis-zum-Mitnehmen-Haufen vorbei, siehst einen Pfefferstreuer und denkst Dir: „Hm. Hab ich eigentlich einen Pfefferstreuer?“

(Übrigens: Was gratis auf den Gehweg gestellt wird, ist von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. Während man in gut betuchten Quartieren seinen Status zelebriert, indem man zeigt, welche kleinen Schätze man sich zu verschenken leisten kann, findet man in Bümpliz Süd gerne auch mal ein altes Sofa auf der Strasse, pragmatisch beschriftet mit „feucht, aber gratis“.)

Nun, das klingt ja alles ganz lieb. Nach einer netten, kleinen Nachbarschaftsspielerei, Kommunismus im Kleinen, Kapitalismuskritik am Gartenzaun, Hippie hipp hipp hurra, aber: Wenn allen alles gehört, gehört dann nicht auch niemandem wirklich etwas? Oder anders gefragt: Was ist, wenn das ausartet? Wo sind die Grenzen? Wo fängt der Umzug an und wo hört das „Gratis zum Mitnehmen“ auf? Wie lange darf man beim Einziehen in die neue Wohnung seine Möbel auf dem Trottoir lassen, bevor sich die gierigen Nachbarshorden darauf stürzen? Denn mittlerweile gehen die Leute fast schon davon aus, dass etwas gratis ist, sobald es auf dem Gehsteig steht! Zeug wird einfach so mitgenommen: Der Gartenstuhl, das Velo, der Grossvater. „Hey, Schatz! Hast Du den Willy gesehen? Ja ich weiss auch nicht, ich habe ihn gerade vorher noch hier hingestellt, ich könnte schwören, ja und jetzt ist der einfach weg!?“ Und dann findet sich der Opa Willy auf einmal in einem anderen Haushalt wieder, irgendwo in der Nachbarschaft, wobei: Dort stehen ja auch all unsere alten Tassen, Bücher und Pfefferstreuer, die wir gratis zum Mitnehmen rausgestellt haben, von dem her fühlt er sich da wie Zuhause.

Und das ist doch irgendwie schön, nicht wahr? Mi casa es su casa, home sweet home, mini Farb und Dini. Das ganze Viertel wird zu einer grossen WG, in der immer alle alles einfach rumliegen lassen.

Nun fragen Sie sich jetzt vielleicht: Was passiert mit unserem Opa Willy? Keine Angst. Wenn die Nachbarn merken, dass sie selbst bereits einen Grossvater zuhause haben, stellen sie ihn eh wieder auf die Strasse. Entsprechend den Naturgesetzen des Gratis zum Mitnehmens haben wir ihn also spätestens in einem Monat wieder zurück. Plus ein Olivenschiffchen.

Es grüsst sie herzlich

Ihr Kaiser

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